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Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?
Anders als Chaplin, der in der Armut der Slums wie ein heruntergekommener Adliger ums Überleben kämpfte und dessen Gegner die Staatsmacht und der Hunger waren, tummelte sich Harold Lloyd mit Vorliebe in den Heiligtümern der amerikanischen Glorie, in Universitäten, reichen Vorstadtvillen, in und an den Hochhäusern der Großstadtzentren.
Anders auch als Buster Keaton, dessen resignative Melancholie den krassen Gegensatz zu Lloyds im wahrsten Sinne des Wortes himmelstürmender Gutgläubigkeit bildete, hatte Lloyd auch immer ein Ziel, dem er wieselflink hinterherjagte. Er galt, wie es ein Kritiker damals formulierte, als »ein Mann ohne Sanftheit, ohne Philosophie, die Verkörperung amerikanischer Unverschämtheit und Energie«.
Dieser Typ des grienenden Hansdampfs in allen Gassen und an allen Fassaden trägt durchaus auch autobiographische Züge. Als zweites Kind eines recht erfolglosen Geschäftsmannes 1893 in Nebraska geboren, mußte sich Harold Lloyd schon früh etwas dazuverdienen. Er arbeitete »natürlich« als Zeitungsjunge, Milchmann, Popcornverkäufer auf Bahnhöfen. Ersten Kontakt mit der Schauspielerei fand er als Statist auf kleinen Bühnen.
Als die Familie nach Kalifornien zog, verdingte sich Lloyd 1913 bei den gerade entstehenden ersten Hollywoodstudios als Kleindarsteller. Er befreundete sich mit einem Kollegen namens Hal Roach, der später der Regisseur der meisten seiner Filme werden sollte.
Roach machte eine kleine Erbschaft, produzierte damit seinen ersten Film -- und Harold Lloyd spielte die Hauptrolle. In Roachs folgenden Kurzfilmen entwickelte Lloyd eine Figur namens Lonesome Luke, die den gerade zum Weltruhm enteilenden Charlie Chaplin imitierte. Erst 1917, als Lloyd Schnauzer und Bowler ablegte, sich Hornbrille und Lächeln aufsetzte, fand er zu seinem Typ und begann eine Karriere, die ihn neben Chaplin, Keaton und Harry Langdon zum erfolgreichsten Komiker des amerikanischen Films machte. Die Traumlaufbahn vom Zeitungsjungen zum Millionär war perfekt, als Lloyd 1924 auch sein eigener Produzent wurde.
Lloyd überstand selbst den Schock des Tonfilms und das Desaster des New Yorker Börsenkrachs, bei dem er einen Großteil seines Vermögens verlor, und starb 1971 als einer der reichsten, wenn auch jahrzehntelang vergessenen Filmstars Hollywoods.
»Erst in jüngster Zeit«, schreibt der Filmhistoriker Wolfram Tichy in seiner eben erschienenen Lloyd-Biographie,
( Wolfram Tichy: »Harold Lloyd«; Verlag ) ( C. J. Bucher, Luzern und Frankfurt. 160 ) ( Seiten, 110 Photos; 29,80 Mark. )
»gab es erste gründliche Ansätze, diesem S.157 einzigartigen Phänomen gerecht zu werden, aber auch diese fügen sich unkritisch dem offenbar unumstößlichen Lehrsatz, daß der Einzug ins Pantheon der großen Komiker nur jenen zustehe, die auch tragische Figuren, Träumer oder wenigstens Anarchisten waren. Da Lloyd nie zu diesen gehörte, konnte er nie den Ruf loswerden, ihm mangele es letzten Endes doch an den entscheidenden Qualitäten.«
Die sorgfältig zusammengestellte und durch eine filmkundliche Analyse im Rahmen des »Filmforums« ergänzte ZDF-Retrospektive gibt nun erstmals in Deutschland ausführlich Gelegenheit, das Bild des Erfinders der »Thrill-Comedy« zu überprüfen. Denn wenn, wie der Kritiker James Agee über Lloyd schrieb, »bloßes Gelächter irgendein Kriterium ist -- und es ist ein gesunder Ausgleich zu den übrigen --, haben ihn nur wenige erreicht, und niemand hat ihn übertroffen«.
Unübertroffen sind vor allem jene Lloydschen Bravourstücke, in denen er mit dem Entsetzen der Höhenangst Scherze treibt. Obwohl ihm seit einer versehentlichen Bombenexplosion 1919 zwei Finger seiner rechten Hand fehlten und er mit einer Prothese agieren mußte, ließ er sich dabei in nur ganz wenigen Szenen doubeln.
Die Geschichten dieser Filme, in denen er zum unfreiwilligen Klettermaxe wird, folgen dem dramaturgischen Grundmuster »Per aspera ad astra«, wobei die Widrigkeiten beruflicher und die Sterne weiblicher Natur sind.
In insgesamt fünf Filmen hat Lloyd diese halsbrecherischen Szenen eingebaut und jedesmal perfekter variiert. In »Höhenrausch« (1920) folgt er seiner mondsüchtigen Braut auf den Fenstersims ihrer Hochhauswohnung; in »Nur nicht schwach werden« (1921) findet er sich in Selbstmordabsicht mit verbundenen Augen plötzlich auf einem Baugerüst in schwindelnder Höhe und versucht nun verzweifelt, heil wieder herunterzukommen, in seinem zweiten Tonfilm »Der Traumtänzer« (1930) versteckt er sich als blinder Passagier in einem Postsack, aus dem er sich erst befreien kann, als dieser aus Versehen an der Fassade eines Hochhauses emporgezogen wird.
Mit dem »Traumtänzer« allerdings erlebte Lloyd seinen ersten echten Absturz -- an der Kinokasse. Das von der Wirtschaftskrise gebeutelte Kinopublikum konnte sich offensichtlich nicht mehr an den Eskapaden eines Mannes ergötzen, der aus unbeirrbarer Karrieresucht an den glänzenden Fassaden einer Welt herumturnte, die schon zusammengebrochen war.
Als man in den 60er Jahren die Stummfilmkomiker neu zu entdecken begann, mochte man sich für Lloyd nicht so recht begeistern. Gegen die sozialkritischen Bosheiten eines Chaplin, gegen Keatons romantisches Flair vom guten Einsamen in einer schlechten Welt wirkt dieser »fixe und unfertige Amerikaner« (Kracauer) mit seinem ungebrochenen Karrieredenken und seinem überbordenden Anpassungszwang allzu platt, allzu eindimensional.
Harold Lloyds Komik ist ohne Hintergedanken, seine Gags sind ein wahres Feuerwerk -- laut, grell, unterhaltsam und rasch verglüht. Wirkliche Komik balanciert immer am Rande der Tragik, Lloyd balanciert am Rande des Unfalls. Das ist atemberaubend, herzerweichend ist es nicht.
S.156Wolfram Tichy: »Harold Lloyd«; Verlag C. J. Bucher, Luzern undFrankfurt. 160 Seiten, 110 Photos; 29,80 Mark.*